Die Trauer als Ausdruck der Liebe

  • Lesedauer:13 min Lesezeit
  • Beitrags-Kategorie:Persönlichkeit
  • Beitrag zuletzt geändert am:28. September 2023
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Amel Lariani

„Hallo Amel, weißt Du es schon? Jasmin ist letzte Nacht gestorben, sie hatte einen Autounfall.“ Mit diesen Worten wurde mir mitgeteilt, dass meine beste Freundin nicht mehr unter uns weilt. Ich wollte es nicht glauben und dachte, es sei ein schlechter Scherz. Gestern hatte ich noch mit ihr telefoniert. Wir haben Pläne für April geschmiedet. Was wir uns alles vorgenommen hatten… Das konnte nicht sein. Sie war präsent. Eingebrannt in meiner Erinnerung. Ihr Lachen. Ich sah sie vor mir. Ich spürte sie. Es konnte nicht sein. Ich konnte es nicht fassen. Wollte es nicht begreifen. Verneinte es. Ich schrie immer wieder „Nein, dass kann nicht sein.“

Ein heftiger Schmerz zerriss mich innerlich. Er öffnete einen tiefen Graben in mir, ähnlich einer klaffenden Wunde. Die Tränen schossen aus mir raus, wie ein Platzregen. Mein Gesicht schwoll nach wenigen Minuten an – oder waren es Stunden? Ich hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Mein Kopf hämmerte. Mitten aus dem Leben gerissen. Nein, ich wollte es nicht glauben. Wir hatten doch gestern noch telefoniert.

Sie wollte mich am Flughafen abholen. Sie holte mich immer ab, wenn ich nach Deutschland kam. „Wir fliegen zwei Tage nach England“, sagte sie. Das war gestern. Ich sah sie vor mir. Ganz deutlich sah ich sie vor mir. Ihr Lachen. Der zerzauste schwarz-graue Zopf, der mitten auf ihrem Kopf ragte. Ihr blasses Gesicht. Ihre unverkennbare Art, Witze zu machen. Am liebsten nahm sie sich selbst aufs Korn. Sie konnte über sich selbst lachen. Eine Qualität, die ich sehr an ihr mochte. „Ich liebe dich“, sagte ich zu ihr und sie sang ein langgezogenes „Ich liebe dich“ zurück.

Es tat so weh.

Sie war weg. Einfach nicht mehr da. Ich würde sie nie mehr sehen.

Den ganzen Tag verbrachte ich zwischen der Verneinung ihres Todes, einem überwältigenden Schmerz und der lebhaften Erinnerung unseres Telefonates. Ich telefonierte mit meiner Familie, mit jedem aus meiner Familie. Alle kannten sie und auch sie waren fassungslos.

Es war meine Art, die Nachricht zu verarbeiten. Ich teilte meinen Schmerz. Da ich tausende von Kilometern entfernt von meinen Lieben lebe, war ich unendlich dankbar, dass es die Möglichkeit der Videotelefonate gibt. Dadurch fühlte ich mich nicht alleine in meiner Trauer.

Am Abend fiel ich völlig ausgelaugt in mein Bett, in dem ich die nächsten zwei Tage regungslos verbrachte. In einer völlig abgedunkelten Wohnung lag ich nur da. Unfähig, mich zu bewegen. Sprachlos. Leer. Ich wollte alleine sein. Nicht, dass ich es bewusst entschieden hätte oder mir den Raum geben wollte. Es war einfach so. Ich ließ mich berieseln. Ein Serienmarathon, von dem ich nichts mitbekommen habe. Ich lag nur da. Eigentlich war es nicht einmal „Ich“, die da lag, es war vielmehr mein physischer Körper. Er fühlte sich taub an. Nicht zu mir gehörig. Wie mein Mund nach der Anästhesie beim Zahnarzt. Wenn dieses Taubheitsgefühl einsetzt und die eigene Zunge wie ein Fremdkörper im Mund liegt. Nicht dazugehörig. Wie abgetrennt. Das Einzige, was ich fühlte, war mein Herz. Es lag schwermütig und dunkel mitten in dieser leeren Taubheit.

Am ersten Tag bewegte ich mich erstmalig am Nachmittag in Richtung Bad. Meine Beine waren schwer. Meine Fußsohlen brannten. In meinem Schädel hämmerte es unnachgiebig. Ich nahm eine Schmerztablette. Sie half gegen die Kopfschmerzen, doch mein Seelenschmerz bot mir hartnäckig die Stirn. Wie konnte etwas Unsichtbares so machtvoll sein … so mächtig, dass es in der Lage war, einen lahm zu legen?

Es war für mich das erste Mal.

Das erste Mal, dass es mir so nahe ging. Das erste Mal, dass es jemanden traf, der mir so nahe stand. Völlig unerwartet. Mein Blick fiel in den Spiegel. Meine Augen waren geschwollen, wie nach einem Boxkampf mit Mike Tyson. Ich hatte Mühe, die Schlitze in der Schwellung zu erkennen. Ich wusch mir mit kaltem Wasser das Gesicht. Dann schleppte ich mich wieder in mein Bett, in dem ich die nächsten 48 Stunden verbrachte. 48 Stunden. 2.880 Minuten. 172.800 Sekunden, in denen ich regungslos im Bett lag.

Nach fast 72 Stunden Trauer mit unterschiedlichen Facetten fühlte ich mich nicht richtig in der Lage, wieder zu arbeiten. Ich verschob meine Coaching-Termine. Meine Kunden hatten Verständnis. Ich wollte mir Zeit geben. Dennoch wollte ich mich ablenken, deswegen entschied ich mich bewusst, meine Yoga-Kurse zu halten. Es waren drei. Das würde ich schaffen.

Ich informierte meine Kunden über den Tod meiner Freundin. Da ich ein sehr lebenslustiger Mensch bin, würde man mir anmerken, dass etwas nicht stimmt.

Ich habe mich bewusst entschieden, offen mit meiner Trauer umzugehen.

Die Reaktionen waren unterschiedlich. Manchen sah man ihr Unwohlsein an. Sie wirkten betreten, wussten nicht so recht, was sie sagen sollten. Andere sprachen mir ihr Mitgefühl aus. Und dann gab es noch diejenigen, die mir ihr Weltbild aufdrückten mit Sprüchen wie „Sie wird sich vom Himmel aus um dich kümmern und dir noch weiter zur Seite stehen“ oder „Deine Freundin ist nicht tot, nur ihr Körper ist tot. Sie lebt weiter!“

Wir haben es nicht gelernt mit Trauer umzugehen.

Im Gegenteil, die Angst vor dem Tod ist bei den meisten groß. Angst vor etwas zu haben, was mit absoluter Sicherheit eintreten wird… das ist paradox… doch Realität in unserer Welt.

Wenn wir mit dem Tod konfrontiert werden, dann bringen wir Kalendersprüche, sind betreten, sprachlos. Die wenigsten sind mitfühlend, wenn sie „ihrem Mitgefühl Ausdruck verleihen“. Dabei ist es so einfach. Die simple Frage „Wie kann ich für dich da sein?“ genügt oder eine Umarmung oder einfach nur präsent sein. Doch die wenigsten können die Energie ihrer Präsenz im Angesicht des Todes halten. Sie fallen in sich zusammen oder bauen sich über ihre Überzeugungen vor einem auf. Wenn es sie aber selbst trifft, dann nutzt der stärkste Glauben nichts. Ich habe es selbst durchlebt.

Leben und Tod teilen sich den Moment.

Auch ich glaube an die Wiedergeburt. Das nimmt mir die Angst vorm Sterben. Aber lebe ich noch. Es wird sich alles zeigen, wenn es so weit ist. Wie alles sich immer erst im jeweiligen Moment zeigt. Leben und Tod teilen sich den Moment. Sie finden nur im jeweiligen Moment statt. Bereits bei der Geburt, wenn man das Licht des Lebens erblickt, steht der Tod einem zur Seite. Wir wissen nicht wann, nicht wie und vor allem bekommen wir keine Antwort auf das Warum. Es ist so. Es ist ein kosmisches Gesetz. Es ist ein Naturgesetz. So wie es keinen Tag ohne Nacht gibt, kein Ausatmen ohne Einatmen, so gibt es kein Leben ohne den Tod. Sie gehören zusammen. Untrennbar zusammen.

Jetzt. In diesem Moment. In dem ich diese Zeilen schreibe, wird mir bewusst, dass ich zu JEDER Zeit tief verbunden mit meinen Gefühlen war. Im ersten Schock, meiner Verneinung, in meinem Schmerz, selbst in meiner Taubheit. Ich war angebunden an meinen Trauer-Prozess. Ich war in Kontakt mit allen Facetten meiner Trauer. In Verbindung mit dem, was IST. Was sein darf. Ich habe die Trauer genauso durchlebt, wie sie für mich in Erscheinung getreten ist. Ungeschönt. Meine Gefühle waren vorherrschend. Ungebändigt. Roh. In ihrer ganzen Natürlichkeit. Sie wollten durch mich ausgedrückt werden, in all ihren Facetten. In ihrer vollen Bandbreite wollten sie zum Ausdruck kommen. Gelebt werden. In dem Moment. Ohne Zurückhaltung. Unverfälscht. In ihrer ganzen Kraft.

Mir wird jetzt erst in diesem Moment bewusst, jetzt, da ich diese Zeilen auf das Papier bringe, wie reich meine beste Freundin mich beschenkt hat. Unsere Liebe ist so tief, dass all die Emotionen, die ich durchlief, darin Platz haben. Dass sie sein dürfen. Bedingungslos. Ich bin dankbar, für dieses Geschenk, dass sie mir zum Abschied gemacht hat. Die Erfahrung, solch tiefe Gefühle zu durchleben und daran nicht zu zerbrechen. Die Erfahrung tiefer Verbundenheit in der Trauer. Und nicht zuletzt dem tiefen Gefühl der Gewissheit, dass die Trauer ein Ausdruck meiner Liebe ist.

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Bücher der Autorin:

Digital Leadershit - Die innere Haltung führt zur Wirkung

Über die Autorin:

Amel Lariani

Amel Lariani ist Bewusstseinscoach und Autorin. In den letzten zwei Jahren hat sie die „embodied pattern release therapy“ entwickelt, um emotionale Blockaden, verkörperte Traumata und Anspannungen auf physischer Ebene zu lösen. Sie ist Trägerin des wissenschaftlichen Kurt Lewin Awards für ihr Buch „Digital Leadershit – die innere Haltung führt zur Wirkung.“ 

Website: www.amellariani.com

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