Kleine Pille

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  • Beitrags-Kategorie:Gesundheit
  • Beitrag zuletzt geändert am:15. April 2023
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Große Folgen | Generation Pille

Isabel Morelli 

Täglich nehmen weltweit viele Millionen Frauen und Mädchen allen Alters die Antibabypille. Mittlerweile seit knapp 58 Jahren auf dem Markt, entwickelten sich die oralen Kontrazeptiva in dieser Zeit zum beliebtesten Verhütungsmittel der Welt. Auch wenn es in den fast sechs Jahrzehnten der hormonellen Empfängnisverhütung immer wieder kritische Stimmen gab, war die Debatte um Nebenwirkungen, Nutzen-Risiko-Verhältnis und Alternativen noch nie so intensiv und langanhaltend wie heute. 

Wer als Frau heute sicher verhüten möchte, greift fast automatisch zur Pille. Über viele Jahre hat das weibliche Geschlecht diese dauerhafte Medikamenteneinnahme kaum hinterfragt. Einem Großteil der Anwenderinnen ist gar nicht bewusst, dass es sich bei der unscheinbaren, kleinen und attraktiv verpackten Pille um ein Medikament handelt. Seit der Markteinführung hat sich die Pille nicht nur zum vermeintlich sichersten Verhütungsmittel, sondern auch zum allseits beliebten Beauty- und Lifestyle-Medikament entwickelt. Größere Brüste? Schönere Haut? Kein Problem, es gibt für jeden Wunsch die passende Pille. Genau deshalb ist es für viele unverständlich, woher die medial sehr starke Welle der Kritik und die negativen Schlagzeilen so plötzlich kommen. Doch wer sich genauer mit der Geschichte der oralen Kontrazeptiva beschäftigt, wird feststellen, dass wir die aktuelle Diskussion um die Pros und Contras dieser medikamentösen Verhütungsmethode nicht zum ersten Mal führen. 

Nebenwirkungen

Die Erfindung der ersten Pille Enovid war in der damaligen Zeit ein echter Meilenstein. Es gab keine sicheren Alternativen, Schwangerschaften und Geburten waren teilweise lebensbedrohlich, Abtreibungen illegal. So wurde das neue Medikament zur Vermeidung von Schwangerschaften trotz unangenehmer Begleiterscheinungen dankend angenommen. Risiken und Nebenwirkungen gab es jedoch schon seit der ersten klinischen Studie. Die Probandinnen litten damals unter Übelkeit, Erbrechen, Benommenheit, Schwindel, Kopf- und Bauchschmerzen, drei Frauen starben. [1] Heute ist es kaum vorstellbar, dass ein solches Medikament trotz aller Widrigkeiten überhaupt zugelassen wurde. 

Noch erschreckender: Bis 1970 gab es keine Packungsbeilage mit einer Auflistung von Risiken und Nebenwirkungen. Weder Ärzte noch Anwenderinnen erkannten also die Zusammenhänge zwischen den auftretenden Beschwerden und der Antibabypille. In einer amerikanischen Dokumentation sagte einer der damaligen Gynäkologen: „Der Arzt war blind, die Patientin war blind und keiner wusste, was er tun sollte. Es gab 15 Millionen Frauen, die vor der Einnahme gesund waren und auf einmal waren sie krank. Nicht alle, aber viele.“ [2] 

Nachdem kurz darauf das Buch „The Doctor‘s Case Against the Pill“ erschien, wurde schnell klar: Orale Kontrazeption hat Nebenwirkungen! In diesem Buch finden sich Erklärungen zu den Nebenwirkungen der Antibabypille, die man offensichtlich schon vor 60 Jahren erkannte, aber auch heute noch für überzogen hält. Unter anderem genannt wurden Libidoverlust, Schilddrüsenfunktionsstörungen, Blasenentzündungen, Depressionen, Schlaganfälle und Krebs. [3] 

In Deutschland gab es seit der Markteinführung ein dauerhaftes Auf und Ab von positiven und negativen Berichten. Die ständig auftauchenden neuen Erkenntnisse zu dem damals noch jungen Medikament zeigten sich auch in den Beipackzetteln. Während es in der Packungsbeilage des ersten Präparats Anovlar noch hieß: „Etwa auftretende Nebenerscheinungen pflegen in den meisten Fällen während der nächsten behandelten Zyklen abzuklingen“, [4] sah das ein paar Jahre später auf dem Beipackzettel für das Präparat Triqilar schon anders aus. Dieser umfasste bereits über 50 mögliche Nebenwirkungen. [5] Die Hersteller arbeiteten stetig an neuen, verträglicheren und niedriger dosierten Präparaten. Doch trotz einer unzähligen Auswahl an verschiedenen Präparaten – die Nebenwirkungen blieben bestehen. 

Die erste, auch in Umsatzzahlen spürbare Pillenmüdigkeit, gab es bereits Mitte der 1970er-Jahre. Schon damals klagten Frauen über Depressionen, Libidoverlust und viele weitere Beschwerden, die sie eindeutig mit der Pille in Verbindung brachten und nicht länger bereit waren, zu ertragen. [6] In dieser Zeit sanken die Verkaufszahlen der oralen Kontrazeptiva rapide, der Umsatz der Kondom- und Diaphragma-Industrie hingegen stieg rasant. 

2015 begann dann die heute noch anhaltende Abwärtsspirale der Antibabypille, nachdem eine junge Dame den Pharma-Riesen Bayer verklagte. Sie hatte durch die Einnahme der Antibabypille eine Lungenembolie erlitten. Die Betroffene warf dem Hersteller vor, dass der Informationspflicht auf dem Beipackzettel nicht richtig nachgekommen wurde. Dieser Gerichtsprozess gab den Anstoß für eine massive mediale Kritik an hormonellen Verhütungsmitteln. Durch die immer lauter werdenden öffentlichen Stimmen und die offene Kommunikation über Risiken, Nebenwirkungen und Folgen, gingen die Verkäufe der oralen Kontrazeptiva seitdem um über 4 % pro Jahr zurück. [7] Dieses Ereignis war der Startschuss für die immer noch andauernde Debatte. Auch wenn den in den letzten Jahren veröffentlichten Studien keine Evidenz nachgesagt wird, für die von Nebenwirkungen betroffenen Frauen waren diese neuen Informationen eine Möglichkeit, ihre Beschwerden einer Nebenwirkung ihrer Pille zuzuordnen. 

Nebenwirkungen gab es also schon immer. Das, was sich in den letzten Jahren verändert hat, ist der Umgang mit ihnen. Frauen haben begonnen, auf ihren Körper zu hören, die Präparate zu hinterfragen und sich auszutauschen. Seit der letzten „Pillenmüdigkeit“ ist auch ein entscheidender Faktor hinzugekommen: das Internet. Wurde früher in Tageszeitungen über die Nebenwirkungen berichtet, waren die Informationen nur kurz verfügbar und die Chance, sie einfach nicht mitzubekommen, sehr groß. Heute sind die Informationen dauerhaft zugänglich und verbreiten sich schneller. So kommen Studienergebnisse endlich auch bei den Anwenderinnen an. Das World Wide Web brachte der Frauenwelt auch noch einen weiteren Vorteil: Die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch. Beispielsweise teilten vor einiger Zeit Millionen Frauen auf der ganzen Welt ihre Erfahrungen mit den Nebenwirkungen der oralen Kontrazeptiva mit dem Hashtag #mypillstory im Netz. 

Was wissen wir heute? 

Einige Symptome, die Frauen durch die hormonelle Verhütung verspüren und deren Zusammenhang lange abgestritten wurde, können heute belegt werden. Neben den allseits bekannten, aber leider immer noch eher stiefmütterlich behandelten Nebenwirkungen auf den Packungsbeilagen wissen wir unter anderem, dass die Antibabypille: 

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das Risiko für Depressionen erhöht, [8]
die Libido verringern kann, 
Einfluss auf die Schilddrüse und die Nebennieren hat, [9]
den Bedarf bestimmter Vitalstoffe erhöht, [10]
das Mikrobiom verändern kann, [11]
die Partnerwahl beeinflusst, [12]
die Gehirnstruktur verändert, [13]
das Risiko für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen erhöht, [14]
das AMH bei Anwenderinnen erniedrigt, [15]
das Volumen der Ovarien signifikant reduziert. [16] 

Die jedoch mit Abstand erschreckendste Erkenntnis der letzten Jahre kam aus Kopenhagen. Die Universität Kopenhagen, die sich vor einiger Zeit auch mit dem Zusammenhang von Depressionen und oralen Kontrazeptiva beschäftigte, untersuchte im Anschluss die Suizidrate unter Einnahme der Pille. Das Ergebnis: Bei Frauen, die die Antibabypille einnahmen, kam es 1,97-fach häufiger zu einem Suizidversuch und 3,08-fach häufiger zu einem tatsächlich vollendeten Suizid. [17] Auch wenn die Evidenz dieser Studie in Frage gestellt wird, ist sie dennoch alarmierend genug, um künftig dementsprechende Warnhinweise auf Packungsbeilagen zu adaptieren, wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor kurzem verlauten ließ.  

Hormonfreie Verhütung

Es gibt eine ganze Menge hormonfreie Verhütungsmethoden auf dem Markt, die mindestens genauso sicher sind wie die Antibabypille, wenn nicht sogar sicherer. Leider hat sich die Pille im Laufe der Jahre so gut etabliert, dass viele andere Methoden in der öffentlichen Wahrnehmung einfach auf der Strecke geblieben sind. Angefangen bei den klassischen Barrieremethoden wie Kondom, Diaphragma oder Portiokappe über IUDs bis hin zur natürlichen Verhütung mit NFP nach Sensiplan, gibt es mehr als genug hormonfreie Alternativen. 

Sicherheit der hormonfreien Verhütung 

Der Pearl-Index wird innerhalb der wissenschaftlichen Erforschung von Verhütungsmethoden seit Jahren nicht mehr angegeben. Mittlerweile zählen nur die Methoden- und die Anwendersicherheit. Die Methodensicherheit belegt die maximal mögliche Sicherheit einer Verhütungsmethode. Diese ist nur bei durchgehend 100 % korrekter Anwendung gegeben. Die Anwendersicherheit belegt die reale Sicherheit im durchschnittlichen alltäglichen Leben. Betrachtet man beide, hat man einen guten Überblick darüber, wie sicher eine Methode theoretisch sein kann und wie sicher sie sich im Alltag bewährt. 

Fehlende Aufklärung 

Es ist schon lange bekannt, dass die Aufklärung und Beratung in Sachen Verhütung nicht die Beste ist. „Viele Gynäkologen klären nur unzureichend über Verhütungsmethoden auf. Sie verharmlosen Risiken, verschweigen ungefährliche Alternativen und geben Werbebroschüren der Pharmaindustrie als Aufklärungsmaterial weiter“, lautete das ernüchternde Ergebnis, zu dem 2016 die Verbraucherzentrale Hamburg in Zusammenarbeit mit dem ZDF-Magazin „Frontal 21“ kam.  Gerade Gynäkologen mit Kassenzulassung haben leider auch schlichtweg keine Zeit, adäquate Beratung zu leisten. 

In Bezug auf die hormonfreie Verhütung ist diese Beratungslücke ein echtes Problem. Ich werde täglich mit etlichen Frauen konfrontiert, die seit Monaten auf der Suche nach einem Gynäkologen sind, der sie über natürliche Verhütung aufklärt, ein Diaphragma anpasst oder eine Kupferspirale legt. Frauen fühlen sich allein gelassen, sobald sie die Pille absetzen. Sie tappen im Dunklen. Da hormonelle Verhütung für sie keine Option mehr darstellt, versuchen sie es auf eigene Faust. Das führt leider häufig zur Nutzung von unseriösen Zyklustrackern, die als Verhütungs-App angepriesen werden, oder zu nicht angepassten Diaphragmen, die falsch sitzen und demnach nicht schützen. 

Fazit 

Die hormonfreien Methoden sind da. Was uns heute fehlt, ist die endgültige Akzeptanz auf gynäkologischer Seite und eine flächendeckende, adäquate Aufklärung über hormonfreie und natürliche Verhütung sowie eine kompetente Betreuung der Patientinnen.

 

Methoden- 
sicherheit 

Anwender- 
sicherheit 

Pille [18] 

0,3-0,5 

9,0 

Kupferspirale [19] 

0,6 

1,0 

NFP Sensiplan [20] 

0,4 

1,8 

Diaphragma [21] 

6 

12,0 

Kondom [22] 

2 

18,0 

Diese Zahlen geben an, wie viele von 100 Frauen pro Jahr schwanger werden, obwohl sie diese Verhütungsmethode anwenden. Es ist auf den ersten Blick erkennbar, dass sowohl die Kupferspirale als auch NFP nach Sensiplan in der realen Anwendung um einiges sicherer sind als die Pille.  

healthstyle   


Bücher des Autors:

Kleine Pille, große Folgen


Über die Autorin:

Isabel Morelli

Isabel Morelli ist Autorin und Gründerin des Blogs „Generation-Pille.com“. Seit 2015 schreibt die ausgebildete Ernährungs- und Gesundheitsberaterin über Frauengesundheit, Hormone und hormonelle Beschwerden besonders in Bezug auf die Antibabypille. Außerdem klärt sie über Nebenwirkungen auf und informiert über körperliche Zusammenhänge zwischen Pille und diversen Symptomen. Zu ihrer Berufung kam sie durch ihre eigene Krankengeschichte, an der die frühe Verschreibung der Antibabypille großen Anteil hatte. Nach 5 Jahren Ärztemarathon, etlichen Diagnosen und Behandlungsversuchen entkam sie dem Hormonchaos. Heute ist ihr Ziel, so viel Wissen zu vermitteln, dass jede Frau in Zukunft besser mit ihrem Körper, ihrer Gesundheit und ihrer Sexualität umgehen kann. 

Kontakt: mail@generation-pille.com 

 Mehr zum Thema 

[1] M. Ross (Actor), M. Collins (III) (Director), R. Collins (Director): American Experience – The Pill« (VHS), 2003 

[2]  Ebenda 

[3]  B. Seaman: »The Doctors’ Case Against the Pill«, Inhaltsverzeichnis, 1969/1995, S. V 

[4]  Die Zeit: »Trennung von Lust und Last«, 29/1986 

[5]  Ebenda 

[6]  DER SPIEGEL: »Das Unbehagen an der Pille«, 6/1977, Seite 38–49 

[7] Berufsverband der Frauenärzte e.V.: »Alarmierende Zunahme von Schwangerschaftsabbrüchen«, Pressemitteilung, 07.03.2018 

[8] C. Wessel Skovlund, MSc.; L. Steinrud Morch, PhD; L. Vedel Kessing, MD: »Association of Hormonal Contraception With Depression«, D.M. Sc., JAMA Psychiatry, 2016; 73(11):1154-1162 

[9] Zeitschrift Frauenarzt: »Frauenarzt-Serie: Hormonsprechstunde – Sie fragen – Experten antworten«, 59 (2018), Nr. 1, S. 30–32 

[10] M. Palmery, et al.: »Oral contraceptives and changes in nutritional requirements.«, Eur. Rev. Med. Pharmacol. Sci. 2013 Jul; 17(13): 1804–1813 

[11] L. Maier, M. Pruteanu, M. Kuhn, G. Zeller, A. Telzerow, E. E. Anderson, A. R. Brochado, K. C. Fernandez, H. Dose, H. Mori, K. Raosaheb Patil, P. Bork, A. Typas: »Extensive impact of non-antibiotic drugs on human gut bacteria«, Nature 555, S. 623–628, 29. März 2018 

[12] V. Michelle Russell, James K. McNulty, Levi R. Baker, A. L. Meltzer: »The association between 

discontinuing hormonal contraceptives and wives’ marital satisfaction depends on hus- bands’ facial attractiveness«, PNAS November 17, 2014, 201414784 

[13] N. Petersen, L. Patihis, S. E. Nielsen: »Decreased susceptibility to false memories from misinformation in hormonal contraception users«, Journal Memory, Volume 23, 2015, Issue 7, 21. August 2014 

[14] H. Khalili, L. M. Higuchi, A. N. Ananthakr- ishnan, J. M. Richter, D. Feskanich, C. S. Fuchs, A. T. Chan: »Oral contraceptives, reproductive factors and risk of inflammatory bowel disease«, Gut, 2013 Aug; 62(8): 

  1. 1153–1159

[15] European Society of Human Reproduction and Embryology: »Future reproductive lifespan may be lessened in oral contraceptive users: Lower measures of ovarian reserve.«, ScienceDaily, 1 July 2014. 

[16] Ebenda 

[17] C. Wessel Skovlund, MSc.; L. Steinrud Mørch, Ph. D., L. Vedel Kessing, D. M. Sc., T. Lange, Ph. D.; Ø. Lidegaard: »Association of Hormonal Contraception With Suicide Attempts and Suicides«, D. M. Sc., 17.11.2017 

[18] J. Guillebaud, A. MacGregor: »Contraception – Your Questions Answered«, 7. Auflage, 2017, S. 10 

[19] L. Speroff, P. D. Darney: »A Clinical Guide For Contraception« 5. Auflage, 2011, S. 5 

[20] E. Raith-Paula, P. Frank-Herrmann, G. Freundl, T. Strowitzki: »Natürliche Familienplanung heute – Modernes Zykluswissen für Beratung und Anwendung«, 5. Auflage, 2012, S. 166 

[21] J. Guillebaud, A. MacGregor: »Contraception – Your Questions Answered«, 7. Auflage, 2017, S. 11 

[22] Ebenda 

[23] Verbraucherzentrale Hamburg, ÄRZTECHECK »Frauenärzte: Schlecht beraten in Sachen Verhütung«, Bericht, 20.07.2016 

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