Atme in Deiner Form

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  • Beitrags-Kategorie:Gesundheit
  • Beitrag zuletzt geändert am:15. April 2023
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Atemmuster | Wer sich selbst kennt, kann tun, was er will

Marco Gerhards

Kennen Sie das? Sie sitzen vor einem Bildschirm und der Nacken spannt. Die geläufige Reaktion darauf ist Ärger oder Unzufriedenheit. In der Regel über sich selbst; dass man nämlich die Bildschirmarbeit als ursächlich für diese Verspannungen und die eigene Unfähigkeit, etwas anderes zu tun, kritisiert. Doch was wäre, wenn der Bildschirm nichts damit zu tun hätte, sondern nur das eigene Verhalten?

Die Ausrichtung des Bildschirms nimmt Einfluss auf unsere Atmung

Richten Sie doch einmal die Aufmerksamkeit auf die eigene Ausrichtung, die persönliche Einstellung und die Art und Weise, wie Sie den Kopf gegenüber dem Bildschirm positionieren.

Tatsächlich wissen die wenigsten Menschen, dass jeder Einzelne unterschiedliche biomechanische Voraussetzungen mitbringt, eine unterschiedliche Form des Körpers, die entsprechend individuell angesprochen werden will; sodass also nicht der Bildschirm an sich, sondern der Blickwinkel auf diesen entscheidend wird. Lassen Sie uns dazu ein Experiment machen mit der Frage: Unter oder über dem Horizont?

Unter oder über dem Horizont?

Setzen Sie sich vor einen Computer-Bildschirm oder bloß an einen Tisch und stellen Sie sich dabei vor, Sie säßen vor einem Computer. Wo steht der Bildschirm, wie blicken Sie auf diesen? Achten Sie dabei auf das Gelenk, das den obersten Halswirbel mit dem Schädel verbindet. Stellen Sie es zunächst dergestalt ein, dass der Blick gerade aus nach vorne geht. So, dass die Augen dem Schädel folgen und nicht mitbewegt werden müssen. Dies ist die Mittelposition oder sogenannte Nullstellung. Jetzt probieren Sie in diesem Gelenk, das die Wirbelsäule und den Schädel miteinander verbindet, Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen aus, sodass der Blick dann automatisch nach unten oder oben fällt. Spielen Sie damit und machen Sie sich bewusst, dass Sie in diesem Gelenk den Blickwinkel einstellen können, der zu Ihrem Bildschirm führt. Welcher Winkel ist Ihnen am Liebsten, wohin schauen Sie bevorzugt?

Probieren Sie dann bewusst die folgenden zwei Optionen aus. Erstens: richten Sie die Wirbelsäule auf, heben Sie leicht den Brustkorb und neigen Sie den Kopf im Hals-Schädel-Gelenk leicht nach hinten, sodass Sie ein paar Grad über den Horizont blicken können. Fragen Sie sich dann: wie lässt es sich mit einer Blickrichtung knapp über den Horizont einatmen? Und wie lässt es sich ausatmen?

Option Zwei: Fixieren Sie den Brustkorb und geben Sie das Gewicht an den Stuhl ab. Dann beugen Sie das Hals-Schädel-Gelenk leicht nach vorne, sodass Sie ein paar Grad unter den Horizont blicken können. Wie atmet es sich mit dieser Blickrichtung ein? Und wie aus?

Können Sie spüren, welche Auswirkungen Ihr Blick(winkel) auf den Monitor auf Ihre Atmung hat, welche Position für die eine Form der Atmung förderlich und für die andere hinderlich ist? Und können Sie auch wahrnehmen, welche der beiden Positionen für Sie angenehmer, natürlicher, leichter zu sein scheint?

Die zwei verbreiteten Atemformen

Worüber wir sprechen, ist zunächst keine Sache des Spürens, sondern der Körper-Physik. Wird der Hinterkopf leicht nach hinten geneigt, werden die Muskeln, die der Weitung im Brustbereich Raum geben, angesprochen – die Einatmung gelingt leichter. Wird hingegen der Kopf leicht nach vorne geneigt, das Kinn Richtung Brustkorb gedrückt, behindert dies die Einatemmuskulatur, fördert stattdessen die den Rumpf verengenden Ausatemmuskeln, sodass die Ausatmung leichter gelingt.

Warum ist es wichtig zu wissen, welche Auswirkungen die Kopfposition auf die Atmung hat? Weil jeder Mensch eine bestimmte Atmung bevorzugt – und dementsprechend seinen Körper darauf einstellen sollte. Oder anders formuliert:

Jeder Mensch atmet; doch der Mensch kennt zwei Atemformen. Die aktive Ein- und passive Ausatmung (die Form der dominanten Einatmung) oder die passive Ein- und aktive Ausatmung (die Form der dominanten Ausatmung).

Die menschliche Atemform bestimmt das optimale Verhalten

Diese Atemformen sind leicht wahrzunehmen und selbstverständlich. Sie beeinflussen Körperhaltung, Bewegungsverhalten und den Stoffwechsel. Sie sind ein wichtiges Hilfsmittel der Selbsterkenntnis und der persönlichen Entwicklung. Je klarer man die Atemformen in das alltägliche Bewegungs- und Lebensverhalten integrieren kann, umso authentischer und natürlicher wird der Körper reagieren. Vollständiges Atmen hilft, optimiert den Stoffwechsel und unterstützt das System des natürlichen Gleichgewichts maßgeblich. Und löst obendrein die Verspannungen im Hals. Denn damit stellt man seinen Körper optimal auf die eigenen Bedürfnisse ein. Ein Prinzip, das in der Natur andauernd angewandt wird.

Wer seiner Kondition Rechnung trägt, lebt besser. Wer schnell arbeitende Muskeln besitzt, der jagt seine Beute. Wer flinke Hände hat und Netze bauen kann, fängt seine Beute auf diese Weise, um sein Überleben zu sichern. Versucht ein Netzbauer ein Jäger zu sein, wird er sich schwerer tun.

Auch die menschliche Atemform bestimmt das optimale Verhalten. Lebe ich formgerecht, stellen sich Gesundheit und Wohlbefinden, im Mindesten ein homöostatischer Rhythmus der gesamten Physiologie ein. Lebe ich formwidrig, wird dies mit Leistungsabfall und Krankheit von der Natur beantwortet.

Warum sollte man überhaupt wider seiner vorgegebenen Form leben? Die Natur hat doch gar nicht vorgesehen, dass man gegen die eigene Körperkonstitution, gegen die persönlichen Voraussetzungen des Lebens intrigiert. Gleichwohl sind Menschen aufgrund ihrer Willkür dazu in der Lage. Dies geschieht zumeist unbewusst, dafür aber umso häufiger: „Atme in den Brustkorb!“ „Atme immer in den Bauch!“ „Halte den Nacken lang, ziehe das Kinn leicht zur Brust!“ „Trinke so und so viel Liter Wasser am Tag!“. Diese „Befehle“ oder „Anweisungen“ werden in der Kindheit nur widerwillig befolgt, doch im weiteren Verlauf der Entwicklung, besonders im Jugend- und Erwachsenenalter, sind Menschen bereit, derlei Anregungen zu befolgen – wider besseren Empfindens und wider besseren Fühlens.

Deswegen kann man mit dem Wissen über die Atemformen einfache und praktische Hinweise geben, welches Verhalten sich bei welcher Form anbietet, was für den einzelnen Menschen genau das Richtige, das Optimale ist. Vielen dieser Hinweise folgt man bereits automatisch, ohne Wissen darüber zu besitzen. Es ist in dem Fall die logische Folge der eigenen Konstitution, die nicht gestört wurde. Die meisten Menschen realisieren aber auch, dass sie bestimmte, schädliche Verhaltensweisen zu früheren Zeiten ihres Lebens nur ungern oder besonders unbewusst übernommen haben.

Das eigene Atemmuster anerkennen

Generell gilt: Die Körperstrukturen sind vom ersten Atemmoment an darauf ausgerichtet, dem eigenen Rhythmus zu folgen, der biomechanischen Logik der Atemformen gerecht zu werden. Sie sind jederzeit erfahrbar und unabdingbar.

Der Körper ist entweder in Expansions- oder Kontraktionsbereitschaft und kann zwischen diesen beiden Polen nicht wechseln oder bestimmte Aspekte des einen übernehmen und andere nicht.

Die Einatemform folgt der Ausdehnung und richtet sich in die Weite auf. Menschen mit dieser Form führen mit dem Brustkorb die Bewegungen und stabilisieren sich im Becken; sie heben den Blick über den Horizont, strecken ihre Knie und Ellenbogen, benötigen Dehnungen und Weite.

Die Ausatemform folgt dem Prinzip der Verengung und orientiert sich stets zum Boden, zur Erde. Menschen mit dieser Form führen mit dem Becken die Bewegungen und stabilisieren sie im Brustkorb; sie halten den Nacken lang und den Blick eher unter den Horizont. Sie benötigen das kraftvolle Atmen im Bauch.

Diese generellen Muster gilt es, zunächst anzuerkennen. Dies gelingt mit Hilfe von einfachen Wahrnehmungsübungen besonders gut. Sie vermitteln das logische Prinzip der Atemformen, um das grundlegende Verständnis der natürlichen Rhythmen des Körpers zu begreifen. Sie sind so natürlich wie Gefühle, so natürlich wie ein Glücksmoment, um den es im Folgenden gehen soll.

Das Glücksexperiment: Welche ist Ihre Atemform?

Das Glück ist nicht zu kaufen, man kann damit spielen, es auch erinnern und damit reproduzieren. Denken Sie an einen glücklichen Moment zurück. Oder voraus. Oder nehmen Sie den jetzigen Moment als glücklichen und erfüllenden Moment wahr. Genießen Sie ihn, tauchen Sie ein ins Glück, egal, wie unglücklich oder glücklich Sie gerade vermeintlich sind. Jetzt ist ein Moment absoluten Genießens, ein Moment der Freude, die bedeutende Nachricht einer Geburt oder Heirat, das besondere Funkeln in den Augen Ihres Partners, als Sie ihn kennenlernten, der Anblick eines alten und majestätischen Baumes oder der einer prallen Pfingstrose. Wenn Sie jetzt in Glückszustände eintauchen, in ihnen verweilen, sich gehen und herzerwärmt treiben lassen – wie verweilen Sie dann in Ihrem Glück am liebsten?

Dominant einatmend oder dominant ausatmend?

Den biologischen Bedingungen Rechnung tragen

Wenn Sie wissen, wie Sie atmen, können Sie das tun, was Sie wollen – ohne geistigen Manipulationen unterworfen zu sein, die nicht der eigenen Atemform oder anderen biologischen Bedingungen Rechnung tragen. Ansonsten kommt es zu Überlastungs- oder Erschöpfungssymptomen.

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In der Gymnastik und im Sport kann man dies besonders beobachten. Denn dort steht die biomechanische Natur des Körpers im Mittelpunkt, ist die optimale Nutzung der physiologischen Fähigkeiten Voraussetzung für den Erfolg.

Je effektiver und effizienter man sich bewegen will, umso mehr profitiert man vom Wissen über seine Atemform und fördert damit die eigene Lebensenergie.

Erfolgreiche Sportler belegen dies. Ein außergewöhnliches Beispiel und Abbild der intuitiv optimal genutzten Atemform ist der berühmte Fußballspieler Cristiano Ronaldo. Blickt man auf sein Bewegungsverhalten, erkennt man den sehr seltenen Fall von nahezu vollständiger Formreinheit, ein dem Atem konsequent folgendes Bewegungsverhalten, welches sonst nur Kinder bis zu einem Alter von drei bis sechs Jahren in dieser Form besitzen. Dass er selten verletzt und sehr erfolgreich seinen Beruf ausüben kann, verwundert aus Sicht der Atemformen nicht. Sein markanter, seinem Wesen charakteristischer Torjubel, durch Überstreckung des Rückens, des vollständigen Durchdrückens der Zentralgelenke in den Armen und Beinen, und des Nach-hinten-Werfens des Kopfes geben eine eindrucksvolle Zurschaustellung preis.

Fazit

Atmen Sie auch in Ihrer Form, profitieren Sie entsprechend davon. Vielleicht werden Sie kein erfolgreicher Sportler, aber mit Sicherheit leben und bewegen Sie sich in einem Körper, dessen Erfolg die vollständige Wertschätzung der eigenen Konstitution ist. Der größte Gewinn, den es für einen sich bewegenden Menschen gibt.

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Bücher des Autors:

Die Atemformen beim Menschen

Über den Autor:

Marco Gerhards

Marco Gerhards ist staatlich anerkannter Sport- und Gymnastiklehrer mit zahlreichen Zusatzausbildungen – u.a. in Kommunikationsmethoden, Mentaltraining, Tanzpädagogik, Bewegungstherapie – und hat ein abgeschlossenes Magisterstudium in biologischer Anthropologie, neuerer Geschichte und Medizingeschichte. Er arbeitet als wissenschaftlicher Autor, Dozent in der Aus- und Fortbildung sowie als selbstständiger Körpertherapeut. Er lebt im Freiburger Raum und bietet Seminare und Einzelsitzungen an, um die Atemformen kennenzulernen und sie optimal in Alltag und Beruf zu integrieren.

Kontakt: 
www.body-reading.de

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